Starke Menschen weinen

Meine Lieben,

ich selber würde mich als einen mental starken Menschen bezeichnen. Wie oft hörte ich die allein lassenden Worte, das schaffst du schon. Ja, allein habe ich es geschafft und doch war ich ein starker Mensch, der weinte.

Auch starke Menschen weinen. Ich wurde stark geboren. Ich war immer schon ein Kämpfer. Nach der Geburt an Keuchhusten erkrankt, ein Taxifahrer holte mich durch herzhaftes Klopfen meines zarten Rückens ins Leben zurück, hatte mir der liebe Gott zwei starke Frauen an meine Seite gestellt, meine Mutter und meine Großmutter, und als erste große Hilfe den Taxifahrer. Mein Vater fühlte sich mit 20 Jahren sehr jung. Meine Mutter war 21 und es blieb ihr nichts anderes übrig als stark zu sein. Stärke liegt wohl in den Genen.

Als ich im zarten Alter von sieben Jahren war, erblickte meine Schwester das Licht der Welt. Zwei starke Frauen hat der liebe Gott ihr an die Seite gestellt, unsere Mutter und mich, ihre manchmal verhasste Lieblingsschwester. „Ich brauche keine zweite Mutter“, klang es mir oft in den Ohren und doch waren wir für einander da. Wir haben so Vieles gemeistert und überstanden.

Zeit zum Weinen hatte ich zumeist erst hinterher. Ich weine des Öfteren heilende Tränen. Danach fühle ich mich leichter. Die Tränen spülen meine Verzweiflung, meine Wut, mein Alleine Sein, manchmal auch mein Einsam Sein hinweg. Zuerst ziehen sie einen Schleier vor die Augen und das Herz. Zu guter letzt fällt mit der letzten Träne dieser Schleier weg wie ein Vorhang.

Das ist der Zeitpunkt, die Welt wieder in ihrer Klarheit, ihrer Brillanz und ihrer Schönheit zu sehen. Der vor mir liegende und zu beschreitende Weg liegt für mich klar erkennbar dar, ob ich ihn mag oder nicht. Er muss von mir beschritten werden. Auch wenn es der Gang nach Canossa ist, wie es so schön heißt.

Ich bin durch tiefe Täler gewatet, die gravierende Folgen für mein Leben hatten: Keuchhusten, Scheidung der Eltern, Nachprüfung im Abi, durchgefallenes Jura-Studium, schwere Geburten aufgrund körperlicher Unvollkommenheit, Scheidung und das Mitleiden mit den Kindern auf ihren schweren Wegen. Ich habe meine Wege beweint, sowohl die, die hinter mir lagen, als auch die, die vor mir lagen, weil starke Menschen weinen.

Eine der schlimmsten Phasen in meinem Leben war es, nicht weinen zu können. Nach einer schweren Geburt, die mir unter des Geburtsvorganges schwere Entscheidungen abforderte, die sich im Nachhinein als so richtig erwiesen, dass Arzt und Hebamme sich später bei mir entschuldigten, war es mir drei Jahre nicht vergönnt zu weinen. Wie gerne hätte ich mich mittels der Tränen erleichtert. Musik sollte mir helfen, meine Tränen laufen lassen, wie sonst immer. Weder „Thank you for the music“ von Abba, noch das Liebesmeadley aus der Westside Story „Somewhere“ und auch „New York, New York “ von Liza Minnelli, erbrachten nichts. Kein Liebesfilm mit Happy End ließ mich ein Tränchen verdrücken. Erst nach einem Schock, mein Sohn musste im Krankenhaus im Gesicht geklammert werden, lief zu Hause ein Sturzbach von Tränen. Starke Menschen weinen – zu Hause.

 

Diese unerwarteten Tränen spülten alle verschollenen Gefühle hervor und hinweg und schwemmten meine persönliche Lebensfreude nach langer Zeit wieder an die Oberfläche. Starke Menschen weinen! Jawohl! Gott sei Dank! Nur so habe ich Zugang zu meiner Stärke. Eine Stärke, an die mich Menschen nicht mit dem „du schaffst das“ Satz erinnern müssen, da sie mich sowieso nicht unterstützen wollen.

Ich wünsche euch zum für euch richtigen Zeitpunkt ein paar reinigende Tränen. Passt auf euch auf,

Eure Birgit 

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