Club der Verstorbenen

Meine Lieben,

wenn unsere friedliche unbescholtenen Welt durch ein Unglück erschüttert wird, dann bin ich sichtlich betroffen. Täglich sterben Menschen irgendwo auf dieser Welt. Das Fernsehgerät trägt uns diese Nachrichten ins Haus. Aber Todesnachrichten vom Ort um die Ecke sind Nachrichten, die uns als Nachbarn dem Club der Verstorbenen hinzufügen. 

Es ist, als wenn uns alle ein Unglück streifte. 150 Menschen des Fluges 4U9525 verloren beim Absturz des Flugzeuges ihr Leben. Mit ihrem Flugzeug zerschellten 150 Lebensträume und unendlich viele Lebensplanungen. Familien und Freunde der Verstorbenen wurden nicht nur gestreift, sie wurden getroffen, mitten ins Herz.

Ich fühle mich so betroffen, auch weil ich den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen kenne. An den Reaktionen eines Menschen erkenne ich, ob mein gegenüber einem solchem Club angehört. Gläserne Augen, zuckender Mund, mahlender Kiefer sind oft die Kennzeichen für Menschen, die schon Erfahrungen mit dem  Tod ihr eigen nennen. Die Menschen wirken weich und schutzbedürftig wie ich selber. Sie lassen deinen eigenen Verlust in Bildern vor deinem inneren Auge aufsteigen, so dass ich meine eigenen Gefühle in meinem Gegenüber wieder gespiegelt sehe.

Wie hieß es mal in der Folge einer Fernsehserie: „Du bist jetzt in einem Club, im Club der verstorbenen Väter. Diesem Club tritt man automatisch bei, wenn du deinen geliebten Vater verloren hast.“ Ich gehöre dem Club der verstorbenen Mütter an, wenn auch ungewollt und unverhofft! Unerwartet! Viel zu früh!

Den Moment, wenn du meinst die Welt bleibt stehen, den kenne ich. Du denkst nicht und schreist „Nein!“ Doch es folgt der erste Atemzug nach dem Unfassbaren, dem die erste Minute ohne Reaktion folgt. Dem folgt die erste Stunde in einer Lähmung. Nach 24 Stunden hast du deinen ersten Tag ohne deinen geliebten Menschen verbracht und weißt nicht, wie du ihn überstanden hast?

Du weißt es nicht. Eigentlich funktionierst du nur. Du machst Schritte, an die du dich nicht erinnerst. Zuerst arbeitest du die erste Woche ab, dann verläuft der erste Monat im Sand. Nach dem ersten Jahr meint die Umwelt, jetzt sei es gut mit der Trauer. Nein, es ist nicht gut. Du hast nur gelernt mit der Vergänglichkeit und dem Ende der Unendlichkeit, mit dem Verlust, zu leben.

Letztens habe ich mit meiner Tante gesprochen, einer Frau mit einem großen Erfahrungsschatz. Sie hat schon den Tod der Eltern und ihres Ehemannes erlebt, und  ich habe sie gefragt, „wann hört der Schmerz auf“, und sie sagte: „Nie! Du nimmst ihn mit ins eigene Grab. Deine Lieben fehlen dir für immer.“ Dem Club der Verstorbenen gehören wir für immer an.

Den unendlichen Schmerz ein Kind zu verlieren, maße ich mir nicht an zu ermessen, denn davon bin ich bislang verschont. Durch meine Großmutter Friderike, deren Erstgeborene von einem Pferdewagen überrollt wurde,  weiß ich aber, dass es Jahre dauern kann, es zu verwinden. Mancher Mensch schafft es gar nicht, weil er daran zerbricht.

Durch die Zugehörigkeit zum Club der Verstorbene wird aus unserem „ich“ ein „wir“, durch gemeinsame Empathie empfinden wir den Schmerz der Verlassenen nach. Die gerade auf Grund des Todes eines nahe stehenden Menschen in diesen Club gelangten sind unsere Bekannte, Nachbarn, Schulfreunde, Freunde, Kollegen, Verwandten, Großmütter, Großväter, Brüder, Schwestern, Mütter, Väter und als Söhne und Töchter.

Wir, die wir schon erfahrene Clubmitglieder sind, können nur eines, unsere Betroffenheit in Taten umwandeln indem wir beistehen, begleiten, tragen, teilen und aushalten.

Ich grüße euch heute mit den Worten von E.E. Cummings:

Ich trage dein Herz. Ich trage es in meinem Herzen …,

Eigentlich sind es Worte eines Liebesgedichtes, doch für  mich stehen hinter genau dieser Zeile meine Lieben, die ich nicht mehr anfassen und vor allem nicht mehr hören kann.

Eure traurige Birgit

4 thoughts on “Club der Verstorbenen

  1. Dem ist wohl nichts mehr hinzu zu fügen.
    ………………………………………..

  2. Liebe Sabine! Liebe El Vis! Liebe Heike!
    Ich glaube, ihr seid Clubmitglieder. Ich drücke euch!
    Liebe Grüße, eure Birgit

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